Ein Mann und ein kleines Mädchen stehen auf einer vereisten Seefläche in dem winterlich-kalten Norwegen. Sie verharren fast in der Mitte des Bildes, ehe sie langsam vorangehen. Schon hier erfasst einen beim Zusehen eine Kälte – nicht nur dieses Bildes, sondern da ist mehr. Die Kamera nähert sich dem Mädchen, es zeigt auf einen Fisch unter der vereisten Oberfläche. Der Mann nickt, blickt sie seltsam an. Dann gehen sie weiter in einen Wald. Die beim Zusehen gefühlte Kälte weitet sich aus, sie scheint direkt aus dem Verhältnis zwischen dem Mann und dem Kind zu entstehen, dann wird sie zu einem Grauen: Im Wald sehen sie ein Reh. Der Mann legt sein Gewehr an, er zielt auf das Reh, das Mädchen wartet, dass er es erschießt – doch dann zieht der Mann den Lauf langsam in Richtung des Kindes. Er zielt auf dessen Kopf, zögert kurz, dann dreht er sich wieder weg. Das Mädchen blickt ihn unverwandt an.
Nach diesem einschneidend-frostigen Beginn geht Joachim Triers Thelma mit einer zweiten großartigen Totalen weiter: Der Campus der Universität Oslo wird aus der Vogelperspektive eingefangen, Menschen sind in Bewegung, sie gehen zu zweit, zu dritt über den Platz. Doch inmitten der Menschen ist auch eine junge Frau, die den Platz allein überquert, sie steuert auf ein Gebäude zu und mit ihr betritt der Zuschauer einen Vorlesungssaal. Auch dort sitzt sie allein. Es ist Thelma (Elli Harboe), sie studiert Biologie und kennt noch niemanden in der Stadt. Ihr Apartment ist karg möbliert, als ihre Eltern sie anrufen, bleibt sie nicht ganz bei der Wahrheit. Und da ist so ein kontrollierender Anteil in diesem Anruf, in den Fragen ihres Vaters und ihrer Mutter, ein Eindruck, der sich zum einen auf der Bildebene widerspiegelt, immer wieder scheint es, als würde Thelma von etwas beobachtet. Zum anderen bestätigt ein Besuch der Eltern diesen Eindruck. Thelma scheint bemüht, ihren Eltern zu gefallen – und wird doch gerügt, dass sie sich nicht fühlen soll, als sei sie etwas Besseres. Thelma reagiert geschockt auf diese Rüge, sie entschuldigt sich und räumt später ihre Schuld ein. In diesen Bildern ist keine physische Gewalt zu sehen und doch ein extrem hoher psychischer Druck zu spüren, in dem Unterdrückung, Schuld und Scham eine zentrale Rolle spielen.
Den gesamten Film über bleibt Joachim Trier bei seiner Titelfigur, die Kamera von Jakob Ihre folgt ihr, sucht ihre Nähe, dann wieder beobachtet sie sie aus einer Vogel- oder auch Überwachungsperspektive, so als gäbe es eine unheimliche Verbindung zu etwas Übergeordnetem. Denn etwas scheint mit Thelma nicht zu stimmen: Als sie in die Bibliothek geht, setzt sich eine junge Frau neben sie. Auf einmal ziehen sich die Vögel am Himmel zusammen, einer fliegt direkt gegen die Scheibe. Dann beginnt Thelma zu zucken, sie hat einen Anfall, der an Epilepsie denken lässt. Ein Krankenwagen wird verständigt, sie spricht mit der Ärztin – und fürchtet sich vor den Blicken am nächsten Tag. Doch Anja (Kaya Wilkins), die junge Frau, die neben ihr saß, spricht sie freundlich im Schwimmbad an. Sie werden Freundinnen – erst auf Facebook, dann auch im wahren Leben. Mit Anja lernt die sehr religiöse Thelma etwas vom Leben kennen, sie unterhalten sich, trinken, rauchen, haben Spaß. Aber da sind weitere Anfälle. Und je mehr Thelma Anja begehrt, desto deutlicher zeigt sich, dass dieses Begehren, dass diese Gefühle etwas Übernatürliches auslösen. Thelma versucht, ihre Gefühle zu kontrollieren, aber sie ist nicht in der Lage dazu. Sobald sie etwas will, sobald sie etwas fühlt, passiert etwas.
Schon in Reprise – Auf Anfang und Oslo, 31. August haben sich Joachim Trier und sein Ko-Drehbuchautor Eskil Vogt mit Psyche und Jugend auseinandergesetzt und in Thelma schaffen sie nun eine bestechende Verbindung aus Horrorfilm und Familiendrama. Langsam entfaltet sich die dichte, spannungsgeladene Geschichte einer jungen Frau, deren Begehren und Emotionen so lange unterdrückt wurden, dass sie förmlich aus ihr hinauszubrechen drohen. Es ist fast, als würde Thelma unter der eisigen Oberfläche implodieren, als müsste sie die Kontrolle der Eltern, die religiöse Erziehung durchbrechen, um sich selbst akzeptieren zu können. Dabei lassen sich die übernatürlichen Phänomene als Metapher für Thelmas Aufbruch lesen, doch zugleich sind sie auch sehr real mit tatsächlichen Konsequenzen. Deshalb taucht man in Thelmas Lebens- und Gefühlswelt ein, die furchterregend und geheimnisvoll ist – und zugleich wächst dadurch das Verständnis für Thelma, für ihre Einsamkeit und Verlorenheit. Man spürt, wie es ist, wenn das bisherige Leben auf den Kopf gestellt wird, wenn man Wahrheiten über sich akzeptieren muss, die im bisherigen Weltbild keinen Platz hatten – und die man auch nicht immer erklären kann.
Bestechend ist in diesem Film neben der hervorragenden Inszenierung und dem sehr guten Drehbuch Hauptdarstellerin Eili Harboe, die jede Entwicklung von Thelma glaubhaft werden lässt. Sie ist kein Anlass, kein Mittel, um einen sehr spannenden übernatürlichen Thriller zu erzählen, sondern sie ist eine lebendige, widersprüchliche, mitreißende Figur, die ganz klar im Mittelpunkt dieser Geschichte steht. Es geht um ihr Empfinden – und deshalb werden Erotik und Sex nicht ausgebeutet, nicht zur Bedienung voyeuristischer Gelüste inszeniert, sondern sind Teil ihrer Persönlichkeit. Selten wurde körperliche Anziehung und innere Sehnsucht so überzeugend und stets im Einklang inszeniert. Wenn Thelma begehrt, dann mit ihrem ganzen Körper und ihrer ganzen Seele.
Dadurch gelingt es diesem kunstvoll aufgebauten Film, von den Themen einer Coming-of-Age-Geschichte zusehends auf grundlegende Fragen des Lebens zu kommen: Welchen Wert hat bedingungslose Liebe? Und was passiert, wenn Menschen einander wirklich brauchen? Die Antworten darauf sind wie dieser Film verstörend, grandios ambiguos, zutiefst traurig und herzzerreißend. Und deshalb ist Thelma ein unfassbar zufriedenstellendes Filmereignis.