Die Schauspielerin Jessica Chastain im Porträt (2024)

An dieser amerikanischen Schauspielerin ist kein Vorbeikommen mehr. Wer ist die Frau, die zurzeit im Bergman-Remake «Scenes from a Marriage» glänzt?

Andreas Scheiner

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Die Schauspielerin Jessica Chastain im Porträt (1)

Marthe Keller kann sich noch erinnern, wie sie eines Abends in Williamstown, Massachusetts, ins Theater ging, dort eine junge Frau auf der Bühne brillieren sah – und anschliessend ganz schnell Al Pacino anrief. Siebzehn Jahre ist das her, und Al sei zu jener Zeit ein bisschen verzweifelt gewesen, sagt die Schweizer Schauspielerin. «Ich finde meine Salome nicht», habe er ihr geklagt.

Pacino adaptierte Oscar Wildes «Salome» für das Wadsworth Theatre in Los Angeles, aber für die Titelrolle schien ihm keine die Richtige. Dann also meldete sich seine langjährige Partnerin, der er sich noch heute eng verbunden fühlt, und sagte: «Ich habe sie gefunden, deine Salome.»

«Das wird etwas»

In einer Aufführung von Anton Tschechows «Der Kirschgarten», so erinnert sich Keller, die wir bei Dreharbeiten in Frankreich erreichen, sei ihr die rothaarige Darstellerin der Anja aufgefallen, die «so eine Grazie, so eine Präsenz hatte». Aber eigentlich könne sie gar nicht recht in Worte fassen, was sie in der jungen Schauspielerin gesehen habe. Wie ein Skulpteur vor dem Rohmaterial ahne sie manchmal einfach: «Das wird etwas.»­

Pacino also bat besagte Darstellerin, Jessica Chastain ihr Name, zum Vorspielen. Der Maestro sei in den Zuschauerrängen gesessen, erinnert sich Chastain im Online-Magazin «Vulture», und immer wieder habe sie ihn die verrücktesten Sachen sagen hören: «Was sehe ich hier, ist das Brando?» Nie zuvor sei man ihr bei einem Casting mit solchem Ansp*rn begegnet, sagt Chastain. Pacino habe hinter ihre «Schüchternheit und Unsicherheit» gesehen. «Er war ein grossartiger Cheerleader.»

Pacino war überwältigt. «Die provoziert mich, besser zu spielen», schwärmte er laut Keller. Salome war gefunden, Chastains Karriere kam in die Gänge. In einem Wort: Den Durchbruch verdankt Jessica Chastain Marthe Keller aus Basel.

Die aber will sich keinesfalls als Entdeckerin sehen. Sie habe «nur jemanden weiterempfohlen», sagt sie und fügt hinzu: «Wäre ich nicht gewesen, wäre jemand anderes zehn Minuten später auf sie aufmerksam geworden.» Das allerdings stimmt so eher nicht, Kellers Bescheidenheit in Ehren. Denn Chastain hatte sich lange vergebens abgestrampelt. Sie hatte zwar die beste Schauspielausbildung genossen, an der Juilliard School in New York. Aber ihr Typus war beim amerikanischen Film nicht gefragt. Die Besetzungschefs in Hollywood hätten, wie sie in einem Interview mit der «FAZ» verriet, beim Anblick ihrer roten Haare immer gleich «eine solche Fresse» gezogen, dass sie gewusst habe: «Du kannst eigentlich gleich wieder heimgehen.»

Ideal für Terrence Malick

Gelegentlich durfte sie in einem Krimi die Leiche sein; um Geld zu verdienen, stand sie auch einmal im Micky-Maus-Kostüm winkend vor einem Shoppingcenter. Erst dank Pacino änderte sich die Auftragslage. Ihre Agentin rief an und sagte: «Terrence Malick besetzt seinen neuen Film, man erwartet dich beim Casting.» Offenbar hatte Pacino dem spirituellen Autorenfilmer, der für «The Tree of Life» nach «einer Frau aus einer anderen Zeit» suchte, einen Tipp gegeben.

Die Schauspielerin Jessica Chastain im Porträt (2)

Die ätherische Chastain mit der Alabasterhaut erwies sich als ideal für Malicks Gegenlichtkino. Der Film feierte eine aufsehenerregende Premiere in Cannes, Chastain stöckelte kamerawirksam die Treppe zum Festivalpalast hinauf, an der einen Hand Sean Penn, an der andern Brad Pitt.

Plötzlich kannte sie jeder. Es war 2011, das Jahr der Chastain: Nach Malicks Film hatte sie noch fünf weitere gedreht, alle feierten innerhalb weniger Monate Premiere. Es gab Chastain als Mossad-Agentin in «The Debt», es gab sie als die besorgte Ehefrau des Apokalyptikers in «Take Shelter», und als Virgilia in Ralph Fiennes Shakespeare-Adaption «Coriolanus» gab es sie auch; ausserdem spielte sie eine hartgesottene Polizistin in «Texas Killing Fields», und ihre Rolle als gute Südstaatenlady im Rassismusdrama «The Help» brachte ihr eine Oscar-Nomination ein.

Wieso sie übrigens den Oscar im darauffolgenden Jahr nicht gewonnen hat, weiss kein Mensch. Denn als Bin-Ladin-Jägerin in Kathryn Bigelows «Zero Dark Thirty», als verbissener rotschopfiger Racheengel einer Nation, schuf sie eine Figur von geradezu zeithistorischer Tragweite. Womöglich erschien ihre kompromisslos-kaltherzige Interpretation der CIA-Agentin einigen Leuten dann doch zu unvorteilhaft fürs Land. Eine eindimensionale Heldenfigur aber ist mit der klugen Chastain nicht zu machen.

Sie strahle eine «natürliche Intelligenz» aus, sagt Keller. Chastain könne fast alles spielen. Nur eine Aufführung von «The Heiress» nach Henry James kommt der Schweizerin in den Sinn, in der man Chastain als hässliches Entlein besetzt habe, was überhaupt nicht gegangen sei. Man mag sich die elegante, charismatische Chastain auch schwer vorstellen in der Rolle des Schwächlings. Sie ist eine Kämpferin.

Aufgewachsen im Elend

Chastain kommt von ganz unten. Die Mutter ist 16 Jahre alt, als Jessica geboren wird. Ein 20-jähriger Rockmusiker soll der Vater sein, aber auf der Geburtsurkunde ist er nicht eingetragen. Jessica wächst bei der Mutter auf, im kulturellen Ödland Nordkaliforniens. Ein Leben in bitterer Armut, manchmal reicht das Geld nicht fürs Abendessen. Das Mädchen ist eine schlechte Schülerin, zum mutmasslichen Vater gibt es keinen Kontakt, vieles in der Familie scheint zerrüttet. Die jüngere Schwester ist drogenabhängig, mit Mitte zwanzig begeht sie Selbstmord.

Nur dank der Grossmutter, die Jessica ins Theater mitnimmt, tut sich dieser eine bessere Welt auf. In der Schauspielerei erkennt sie einen Weg aus dem Elend, in ersten Aufführungen überzeugt sie so sehr, dass ihr die Juilliard School ein von Robin Williams finanziertes Stipendium gibt. Was in ihr steckt, scheint klar; es zieht sie zu den unbequemen Rollen, sie sucht sich Stoffe mit Reibungsfläche.

Was eigentlich fordert einen als Schauspieler am meisten? Chastain erinnert daran, dass die hohe Kunst nicht darin liegt, sich für eine Rolle zu entstellen, möglichst viel Bauchfett anzusetzen oder sich bis auf die Rippen herunterzuhungern. Es sind zumeist die sozusagen naturbelassenen Parts, die beeindrucken. Als Zuschauer ist man mitgenommen von der Darstellung gewöhnlicher Menschen, davon, wie Schauspieler eine alltägliche Tragik zu transportieren vermögen. Und Chastain liefert dafür, zusammen mit Oscar Isaac, gerade das beste Anschauungsmaterial: Wie die beiden Hagai Levis Neuauflage des Bergman-Klassikers «Scenes from a Marriage» meistern, ist die hohe Schule schlechthin.

Eine Ehe zerbricht, Chastain und Isaac spielen die verschiedenen Stadien der Krise kongenial durch: Sie hatten sich angeschmachtet, jetzt schweigen sie sich an, sie werfen sich Worte an den Kopf oder auch Schuhe. Man kann irgendwo einschalten in diesem Fünfteiler und landet mit Sicherheit in einer Szene, in der die Darsteller gerade auftrumpfen.

Nehmen wir diese Szene aus Episode zwei: Jonathan (Isaac) hat einen Rest Nudeln im Kühlschrank gefunden, er haut rein in den Mitternachtssnack, als seine Frau Mira (Chastain) zur Tür hereinkommt. Sie ist früher als geplant zurück von einer Geschäftsreise. «Haben wir noch eine Flasche Wein offen?», fragt sie schnell. Aus Miras Tasche piepst eine SMS, noch eine Nachricht kommt rein. Eine Freundin, erklärt Mira ungefragt. Etwas stimmt nicht, man spürt es, Jonathan spürt es: Was los sei, fragt er. Sie wiegelt ab, trinkt durstig ihren Wein. Dann, mit einem Mal, rückt sie heraus damit: «Ich bin heute Nacht nach Hause gekommen, weil ich mit dir reden muss.» Er hört auf, seine Nudeln zu schlürfen. «Ich habe mich verliebt in jemanden», sagt sie. «Es klingt verrückt. Es ist so verrückt.»

Die Schauspielerin Jessica Chastain im Porträt (3)

Eine Ehe entgleist

In dem Moment also ist die Ehe entgleist, und was unmittelbar darauf folgt, ist ein Fest für die Schauspieler. Sie können aus dem Vollen schöpfen, es wird ihnen alles abverlangt. Isaac spielt sich durch den ersten Schock, die Verletztheit, dann kommen Frust und Wut, während sich Chastain als Mira trotzig gibt, aber auch mit sich ringt: Was hat sie eigentlich getan?

Es sind schauspielerische Grosstaten von beiden, aber das eigentliche Kunststück vollbringt Chastain noch vor der Eskalation: Wenn Mira ihrem Mann vorgibt, dass alles in Ordnung sei, muss das leicht unglaubwürdig wirken. Anders gesagt: Chastain spielt hier eine schlechte Schauspielerin, und sie tut das sehr überzeugend. Vielleicht zeigt sich darin die grösste Meisterschaft: in der Fähigkeit, den richtigen Ton, wenn’s sein muss, auch knapp zu verfehlen.

Marthe Keller hat eigentlich keine Zeit, während der Dreharbeiten fernzusehen. Aber «Scenes from a Marriage», sagt sie, habe sie trotzdem eingeschaltet; jetzt komme sie kaum mehr los davon. Jessica Chastain, heute 44, verblüffe sie wie damals, vor 17 Jahren, in Tschechows «Der Kirschgarten».

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